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Gedächtnistraining: betrachten, sich abwenden, zeichnen ohne Hinzusehen, Skizze eines Frauenkopfes von Mira Alexander.

#MiraDraws: Gedächtnistraining

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Veröffentlicht: 07.08.2017
Anzahl Wörter: 622
Lesedauer: 3 min

Ich gebe zu, ich bewundere Urban Sketchers. Ihr Blick fürs Detail, der in einer ausgesprochenen Hässlichkeit Schönheit findet. Die Leichtigkeit ihrer Skizzen. Ihre Flüchtigkeit.

Auch ich würde gerne unterwegs zeichnen. Die meiste Zeit, die ich unterwegs bin, nimmt leider mein Hund meine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch (ich weiß immer noch nicht, wo er den Ich-mache-den-Verschwindikus-Trick her hat). Es sind die seltenen Gelegenheiten, dass ich in der City unterwegs bin, wo ich zeichnen könnte. Und obwohl Augsburg genug wunderschöne Architektur und Parkanlagen bieten, sind es die Menschen, die ich gerne zeichne. Eine winzige Bewegung der linken Augenbraue kann ganze Lebensgeschichte erzählen, während der Eigentümer der besagten linken Augenbraue sich in sein Schicksal ergibt, dass beispielsweise stundenlanges Ausharren vor der Umkleidekabine beinhaltet.

Nein, das ist kein Vorurteil. Beobachten Sie bitte das nächste Mal das Verhalten beider Geschlechter vor der Umkleidekabine: Die Frau geschäftig, sie holt das nächste Kleiderstück, sie lässt ihren Mann sich um seine eigene Achse drehen, sie kritisiert, sie bringt das aussortierte Kleiderstück zurück, sie holt das nächste …

Nun schwenken wir unseren Blick nach rechts, wo ein anderer Mann auf eine andere Frau wartet. Sie probiert an, schiebt den Vorhang zurück, sucht seine Aufmerksamkeit. Er reißt sich von seinem Smartphone weg (beachten Sie seinen Gesichtsausdruck: er schwankt zwischen schicksalsergeben und genervt; selten, viel zu selten, findet sich dort eine Spur von echter Begeisterung für das, was er erblickt – seine Frau, und zwar egal in welcher Verpackung), murmelt etwas in seinen nicht vorhandenen Bart, was sich wie „ist doch auch schön“ anhört, und versinkt wieder in seinem Smartphone, während seine Frau den Vorhang wieder zuzieht, anprobiert, den Vorhand zurückschiebt, seine Aufmerksamkeit sucht, er sich erneut zusammenreißt, sein Blick rutscht vom Smartphone hin in Richtung Umkleidekabine …

Ich würde gerne erleben, wie eine Frau genauso desinteressiert vor der Kabine ihres Mannes sitzt, während für ihn da drin die Welt untergeht (oder auch nicht).

Ich denke, ich habe Ihnen nun begreiflich gemacht, dass ich lieber Menschen als Gebäude und Pflanzen skizziere. Dumm nur, wenn man sich dabei erwischen lässt. Und obwohl die Ähnlichkeit sich eh sehr in Grenzen hält (manchmal mache ich mir den Spaß, die komplette Figur mit einem einzigen dicken Pinselstrich zu erfassen; wie viel Ähnlichkeit mit dem Original kann man da noch entdecken, von dem sehr ausladenden Bierbauch mal abgesehen?), wurde ich mal aufgefordert, alle Zeichnungen meines Skizzenbuchs vorzuzeigen. Es war … peinlich. Und so beschloss ich, etwas dagegen zu unternehmen.

Heute ist Tag 1. Tag 1 meiner neuesten Herausforderung: Speed-sketching. D. h., ich betrachte für den Anfang 5 Minuten lang (2 Minuten stellten sich als nicht ausreichend) ein Gesicht, versuche all seine Details zu erfassen, um sie dann, nach Ablauf dieser fünf Minuten ohne nochmal das Original anzuschauen, komplett nach Gedächtnis zu zeichnen. Mit der Zeit verkürze ich die Zeit, in der ich das Original betrachten darf. Dann werde ich die Schwierigkeit nochmal erhöhen, indem ich sich ständig bewegende Menschen memoriere und nach Gedächtnis zeichnen werde.

Was ich mir davon erhoffe? Dass ich in Zukunft nicht mehr so auffalle. Ich bitte Sie, eine Frau, die ihr Gegenüber zunächst fünf geschlagene Minuten lang anstarrt, um dann plötzlich in ihrem Skizzenbuch herumzuzeichnen – das fällt doch garantiert weniger auf, als eine Frau, die immer mal wieder von ihrem Skizzenbuch hochschaut und dann wieder weiter zeichnet.

Sie sehen also meinen ersten Versuch, komplett nach Gedächtnis zu zeichnen. Und obwohl die Ähnlichkeit nicht frappierend ist, habe ich den Gesichtsausdruck genau getroffen.

Und genau darauf kommt es mir an: Ein Gesicht an sich ist leer, nichtssagend. Erst die Gefühle und Emotionen machen es zu etwas Lebendigem. Sie haben sicherlich auch schon oft den Ausdruck „tote Augen“ gehört oder sogar den einen oder anderen Menschen mit den selbigen getroffen. Jetzt wissen Sie, wovon ich rede.

Sie haben eine Anmerkung oder eine Anregung zu diesem Artikel? Ich freue mich über Ihren .