Verschenken Sie das Potential der Spitznamen (nicknames)?
skip to Article →Stellen Sie sich vor, Sie sind ein(e) Manager(in), haben alles im Griff, regieren mit eisernen Hand. Ihre Mitarbeiter wie Geschäftspartner schauen zu Ihnen auf. Sie genießen das freundliche Geplänkel bei einem Geschäftsessen … als plötzlich ein „Das ist ja der Rotzi!“ von hinten ertönt.
Sie zucken zusammen und werden vor den Augen aller schockiert-amüsierten Anwesenden zu einem stammelnden Fünftklässler.
Sie glaubten, die Zeit der Hänseleien liege längst hinter Ihnen. Doch dieses eine Wort, Ihr Spitzname, den Ihnen damals die coole Clique aus der letzten Reihe verpasst hatte, dieses eine Wort holt das kleine verängstigte Kind aus Ihnen heraus.
Selbst wenn Sie nach dieser einer Schrecksekunde sich wieder gefangen haben, Ihre Geschäftspartner haben einen entlarvenden Blick auf Ihr früheres Ich bekommen, das für immer ein Teil von Ihnen bleiben wird.
Alles nur wegen diesem einen kleinen Wort, Ihrem Spitznamen aus den Kindertagen.
Spitznamen als Mittel der Charakterisierung
Nun, haben Sie sich schon von dem kleinen Schock erholt?
Warum erzähle ich Ihnen diese kleine Geschichte? Weil vor einiger Zeit K.M. Weiland auf Twitter eine #WQOTD stellte: Do your characters have any nicknames for each other? .
Ich fand die Frage sehr interessant, weil ich das Gefühl habe, dass die Spitznamen in der Literatur oft unterschätzt werden. Dabei bieten sie die einmalige Gelegenheit, unterschiedliche Seiten einer Persönlichkeit von unterschiedlichen Blickwinkeln in einem einzigen Wort zu beleuchten.
Nehmen wir mal an, unsere Geschichte handelt von einer jungen Frau. Ihr Vater nannte sie „Pummelchen“. Was sagt das uns über den Vater? Wahrscheinlich, dass er wenig Ahnung von der Psyche einer (jungen) Frau hat. Was sagt es uns über die Frau (seine Tochter)? Dass sie sich wohl niemals gegen ihn durchsetzen konnte oder wollte.
Nach diesem einen Spitznamen wissen wir schon, dass die junge Frau wohl pummelig ist (oder war) und dass sie sich nicht gegen ihren psychologisch wenig bewanderten Vater durchsetzen konnte. Also eine eher angepasst-nette Frau.
Jetzt kommt ihre Mutter ins Zimmer und bittet ihre „Große“, ihr beim Decken des Tisches zu helfen. Was lernen wir daraus? Dass die junge Frau offenbar Geschwister hat(te) und darüber hinaus wahrscheinlich die Älteste unter den Geschwistern ist (zumindest die älteste Tochter). Gut, die junge Frau erscheint uns immer noch sehr angepasst.
Und da gerade eine Familienfeier stattfindet, schneit ihr jüngerer Bruder herein, gibt ihr einen Klaps auf den Rücken und erkundigt sich nach dem Stand der Dinge bei der „Brillenschlange“.
Ich sehe sie schon vor mir: Pummelig, angepasst, mit einer Brille auf der Nase, wahrscheinlich eine Streberin.
Es klingelt. Sie öffnet die Tür. „Süße!“ Ihr Freund umarmt sie und bemerkt gar nicht, wie sie ihre Nase rümpft.
Jetzt weiß ich, dass ihr Freund sie lieber nett hat als stark und selbständig. Und ich ahne schon das Konfliktpotential, denn offenbar gefällt ihr dieser Kosename nicht. Vielleicht sucht sie noch ihren Platz im Leben? Oder hat sie ihn schon gefunden, nur wollen die Anderen das nicht wahrhaben?
Endlich, die Familienfeier ist vorbei. Sie fällt entnervt ins Bett, alleine.
Nächster Morgen. Ein steril wirkendes Büro. Ein Mann mit der Kurzhaarfrisur. Sie betritt den Raum.
„Sniper, Sie haben auf sich warten lassen.“
Ups, ist das wirklich sie? Führt sie ein Doppelleben? Ist sie Teil eines Sonderkommandos? Ist sie eine (staatlich bezahlte) Auftragsmörderin?
Ich beginne, alle Annahmen von vorhin zu überdenken …
Und die Moral von der Geschichte?
Setzen Sie die Spitznamen Ihrer Protagonisten strategisch ein? Wenn nein, überlegen Sie es sich.
Natürlich können Sie Ihren Protagonisten von vorn herein einen „passenden“ Namen vergeben wie Bianca Rubia (passt doch, sie ist schließlich blond), Ladia de Winter (ein intrigante Schlange) oder Marcus Gray (ok, davon reden wir jetzt nicht). Doch wirkt dieser Trick für mich zumindest ziemlich plump, die wenigsten von uns haben schließlich von Geburt an Namen, die exakt zu unseren Persönlichkeiten passen. Und genauso (nämlich als einen billigen Trick) empfinden das unsere Leser.
Einen Spitznamen muss man sich hingegen „erarbeiten“, den bekommen wir für unsere Charaktereigenschaften oder auch für unser Aussehen. Jedenfalls ist das der Sinn eines Spitznamens, seinen Träger zu charakterisieren. Und häufig auch denjenigen, der diesen Spitznamen vergibt/benutzt.
Was denken Sie, auf welchen Typ Frau steht ein Mann, der seine Freundin „Süße“, „Sahnetörtchen“ oder „Schatz“ nennt? Und was sagt es uns über die Frau aus, die sich so etwas gefallen lässt?
Wäre er mit einer „Cas“ zusammen, wenn er sie doch lieber „Cassie“ (als Abkürzung von Cassandra) nennt? Beide Spitznamen wurden vom selben Vornamen abgeleitet, beide klingen ähnlich. Doch der Erste wirkt abgehackt, was seiner Trägerin gewisse Stärke verleiht, während der Zweite dahin plätschert. Ein Wort, zwei Menschen charakterisiert.
Und was fällt Ihnen zum Thema Spitznamen (nicknames) ein? Wie setzen Sie sie ein? Ich freue mich über Ihre Kommentare.
Ihre Mira Alexander
P.S.: Ach ja, noch etwas: Bedenken Sie das nächste Mal, wenn Sie jemanden einen Spitznamen verpassen, dass dieser auch Einiges über Sie selbst verrät. Ich meine nur …
- Stockfoto: unsplash.com, Sebastian Unrau
- Fotomanipulation: Mira Alexander
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